Wir gehen aneinander vorbei – auf Straßen, in Bahnen, in Wartezimmern, an Supermarktkassen –, ohne einander wirklich zu sehen. Gesichter, die uns für einen Sekundenbruchteil begegnen, flüchtig, beiläufig, oft nicht mehr als Teil einer anonymen Kulisse. Und doch trägt jedes dieser Gesichter eine Geschichte in sich, die niemand auf den ersten Blick erkennen kann. Eine Geschichte, die selten erzählt wird, weil wir selten fragen – oder weil wir verlernt haben, wie man fragt, ohne zu verletzen.
So viele Urteile entstehen im Bruchteil eines Moments. Der Blick auf ein müdes Gesicht, das sofort als unfreundlich, verschlossen oder abweisend gelesen wird – vielleicht aber nur müde ist von einer zu langen Nacht am Krankenbett oder von Jahren, die zu viel getragen haben. Ein anderer erscheint laut, überdreht, zu präsent – vielleicht, weil er gelernt hat, dass Sichtbarkeit seine einzige Verteidigung gegen das Vergessen ist. Und wieder andere wirken glücklich, sorgenfrei, als läge ihnen das Leben zu Füßen – während im Verborgenen ein Scherbenhaufen liegt, liebevoll mit Lächeln überdeckt, um sich selbst und anderen nicht die Wahrheit ihres Schmerzes zuzumuten – oder weil das Blenden einfacher schien als das Erklären.
Wir wissen so wenig. Und trotzdem urteilen wir so schnell. Über Körperhaltungen, Kleidungsstücke, Blicke, Stimmlagen. Wir schließen von Momenten auf ganze Lebensläufe, von Worten auf Charakter, von Schweigen auf Desinteresse. Dabei sehen wir nur Bruchstücke – nie das Ganze. Und diese Bruchstücke, die wir oft für Wahrheit halten, genügen uns, um Haltungen einzunehmen, Abstand zu schaffen, Menschen in Schubladen zu legen, aus denen sie kaum wieder herausfinden.
Vielleicht ist das die stille Tragik unserer Gegenwart: dass wir ständig von Menschen umgeben sind, aber ihre Menschlichkeit nicht mehr fühlen. Dass wir gelernt haben, hinzusehen, ohne wirklich zu schauen. Und dass wir irgendwann vergessen haben, wie sehr wir selbst darunter leiden, wenn wir das, was im anderen lebt, nicht mehr als etwas Eigenes erkennen. Denn das, was wir im anderen übersehen, ist oft auch das, was in uns selbst nicht mehr gesehen wird: Verletzlichkeit, Sehnsucht, Geschichte, Licht.
Menschlichkeit beginnt nicht da, wo wir alles verstehen, sondern dort, wo wir das Unverstandene nicht verurteilen. Wo wir anerkennen, dass jeder Mensch in einem anderen inneren Raum lebt, zu dem wir keinen Schlüssel haben. Und dass es dennoch unsere Aufgabe sein könnte, diesen Raum nicht mit vorschnellen Urteilen zu besetzen, sondern ihn mit Respekt zu umkreisen – still, offen, ohne Etiketten.
Vielleicht verlieren wir nicht nur andere in dieser Welt der Hast und Bilder. Vielleicht verlieren wir uns selbst, jedes Mal ein Stück mehr, wenn wir aufhören, mit dem Herzen zu sehen.
Vielleicht ist es das, was fehlt –nicht Aufmerksamkeit,sondern ein ehrlicher Blick.
