
Die Stadt liegt offen vor dir wie ein aufgerissenes Buch. Zwischen rußschwarzen Türmen hängt die Luft schwer und schmeckt nach Metall. Der Himmel hat die Farbe von altem Kupfer; das Licht ist warm, doch es brennt nicht, es lastet. Du gehst eine Straße entlang, die keine mehr ist, nur ein Band aus Schutt, Kabeln, Glassplittern. In den Fenstern: keine Gesichter. In den Häusern: keine Türen. Es sieht aus wie ein Unfall – und es war eine Folge. Nichts hier ist einfach „passiert“. Es wurde gewählt. Immer wieder. Tag für Tag.
Das war Ressourcenübernutzung.
Wälder fielen still – nicht in einem Jahr, sondern in Jahrzehnten.
Die Meere trugen unsere Netze, unsere Gifte, unseren Lärm – und gaben leer zurück.
Die Böden wurden ausgeschöpft, erschöpft, aufgegeben.
Man nahm, ohne den Kreislauf zu schützen – und nannte es Fortschritt.
Am Rand der Trümmer wächst Gras, dünn, staubig. Ein Vogel kreist über einem ausgebrannten Skelett aus Stahl. In den Ritzen des Asphalts liegen Dinge, die früher zu Menschen gehörten: eine Uhr ohne Zeiger, ein Schuh ohne Paar, ein Telefon ohne Netz. Strom kommt nur in Wellen. Die Netze sind wie Nerven, die nachgeben, wenn zu viele Hände zugleich an ihnen ziehen.
Das war Krieg um Ressourcen.
Nicht immer mit Fahnen, oft mit Logos.
Verträge um Wasser, um Land, um Metalle – unterschrieben weit weg von denen, die dafür zahlen mussten.
Geopolitische Linien, die über Dörfer gelegt wurden wie Risse über Glas.
Konflikte, die Ressourcen hießen und Menschen meinten.
Niemand hat beschlossen, dass es so wird. Und doch haben alle beigetragen. Nicht mit großen Gesten, sondern mit kleinen Nachlässigkeiten, die so leicht waren, dass man sie nicht bemerkte. Ein Klick statt eines Gesprächs. Ein „später“ statt eines „jetzt“. Ein „alle machen das so“ statt eines „ich nicht“.
Man verwechselte Tempo mit Richtung – und Bequemlichkeit mit Fortschritt.
Das war Klimaignoranz.
Warnungen – klar, messbar, alt.
Jedes Jahr ein Bericht, jedes Jahr ein Aufschub.
Emissionen stiegen, obwohl die Folgen bekannt waren.
Als das Klima kippte, tat man überrascht – als wäre es ein Unfall und nicht die Summe aus unzähligen kleinen „noch ein bisschen“, die sich wie Tropfen zu einer Flut sammelten.
Die Wasserstellen sind umzäunt. Nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Angst.
Wer hat, schützt. Wer braucht, fragt nicht – und bekommt nicht.
Früher nannte man das Markt. Heute nennt man es Überleben.
Auf den Masten hängen Kameras, die blinzeln wie schläfrige Augen.
Sie sehen viel und verstehen wenig. Früher hat man ihnen vertraut, weil sie schneller waren als Menschen.
Dann hat man vergessen, wozu Menschen da sind.
Das war Technik-Abhängigkeit.
Algorithmen, die optimierten, was sich zählen ließ – und vergaßen, was uns zählt.
Entscheidungen outgesourct, Verantwortung mit.
Bequemlichkeit statt Urteilskraft, Vorschlag statt Haltung.
Wir gaben ab, bis wir uns selbst nicht mehr zurückholen konnten.
An den Fassaden hängen noch die alten Versprechen. „Immer verbunden.“ „Alles verfügbar.“ „Nie wieder warten.“
Man hatte geglaubt, Überfluss mache großzügig. Er machte müde.
Aufmerksamkeit wurde zur Währung, und wer sie hatte, formte die Welt.
Man tauschte Nähe gegen Reichweite, Zweifel gegen Reichweite, Austausch gegen Reichweite.
Reichweite wuchs. Verbundenheit schrumpfte.
Das war Gesellschaftsspaltung.
Reichtum und Macht verdichteten sich, Stimmen verdünnten sich.
Wer viel hatte, definierte Wirklichkeit; wer wenig hatte, verschwand aus ihr.
Zwischenräume wurden zu Gräben, bis keine Brücken mehr reichten.
Es gab Warnungen. Sie waren nicht laut, nur konsequent.
Flüsse trugen Salz dorthin, wo es nie gewesen war.
Wälder sprachen in helleren Tönen.
Der Sommer blieb länger, als er eingeladen war.
Städte glühten nachts, als wären sie krank.
Die Sprache veränderte sich zuerst. Sie wurde härter. Ecken statt Übergänge. Entweder statt Sowohl.
Komplexes wurde auf einfache Sätze gestutzt und für Klarheit gehalten.
Wer Fragen stellte, galt als Bremse. Wer innehielt, als Risiko.
Das war Wissenschafts- und Faktenverweigerung.
Daten lagen offen, wurden aber verhüllt – mit Meinungen, die wie Wahrheiten klangen.
Populismus versprach die Abkürzung; Vernunft verlor Publikumsinteresse.
Wer belegte, störte. Wer behauptete, gewann.
In einem der Türme flackert Feuer. Nicht groß. Genug, um zu zeigen, dass noch Atem da ist.
Es brennt in einem Büro, in dem früher Entscheidungen gefallen sind.
Auf den Tischen: helle Rechtecke, die einmal Fenster in andere Welten waren.
Sie liegen da wie Muscheln ohne Meer.
Was zurückbleibt, wenn Technik ohne Beziehung bleibt: Dinge, die nicht mehr antworten.
Das war der Verlust der Naturverbundenheit.
Die Erde wurde Kulisse, nicht Grundlage.
Man fotografierte Bäume und vergaß, dass man sie atmet.
Man sprach von „Umwelt“, als stünde man außerhalb.
Du findest eine Treppe, die noch hält. Auf halber Höhe steht ein Kinderfahrrad. Der Lenker ist mit einem Band umwickelt, das längst ausgefranst ist. Das Metall riecht nach Rost, der Gummi nach Staub und altem Regen – nach Erinnerungen, die niemand mehr abholt. Du fragst dich, ob es einen Tag gab, an dem man hätte umkehren können. Nicht den großen, historischen. Einen kleinen. Den, an dem du hättest zuhören können. Den, an dem du hättest fragen können, warum die, die am wenigsten haben, am leisesten klingen. Den, an dem du hättest sagen können: „Ich steig aus. Ich mach das anders.“
Diese Welt ist nicht das Ergebnis eines Monsters. Sie ist das Ergebnis von Gewohnheiten.
Von Algorithmen, die bekamen, was sie messen konnten; von Systemen, die belohnten, was sich rechnen ließ; von Herzen, die immer seltener in Sätze durften.
Man behandelte die Erde wie ein Lager, den Körper wie eine Maschine, die Seele wie eine Privatsache.
Und wunderte sich, dass alles spröde wurde.
Auf einem Platz stehen Automaten nebeneinander wie Zäune. Früher gaben sie Kaffee aus, wenn man Münzen einwarf.
Heute stehen sie zwischen dir und allem, was du brauchst: Wasser, Batterien, Medikamente, Fahrkarten.
Jeder Automat hat eine Kamera, einen Fingerabdruckscanner, einen Ausweisleser.
Die Bildschirme leuchten mit Regeln: „Nur mit Genehmigung.“ „Nur in Gruppen.“ „Nur bis 18 Uhr.“
Wer etwas entnimmt, wird registriert. Wer zu oft kommt, muss erklären, warum.
Nichts hier wird von Nachbarn befüllt – alles kommt von einer Verwaltung, die du nicht siehst.
Das ist die Ironie: Wenn Vertrauen verlernt wird, wächst die Ordnung. Wenn Nachbarschaft verschwindet, kommt die Kontrolle.
Nicht, weil jemand es so will. Weil niemand anderes bleibt.
Du bleibst stehen. Der Wind trägt den Geruch von Metall und altem Regen.
In der Ferne sirrt ein Generator; sein Rhythmus erinnert an einen Herzschlag, der zu tief schlägt.
Du stellst dir vor, wie es war, als an diesem Ort noch Gespräche durch Fenster wehten, als jemand auf einem Balkon stand und eine Pflanze goss, als ein Kind mit Kreide einen Sonnenaufgang auf den Boden zeichnete.
Du begreifst: Diese Welt starb nicht an einem Tag. Sie starb an zu vielen Tagen ohne Aufmerken.
Und doch, während die Sonne durch die Lücken der Türme fällt, merkst du etwas, das nicht zum Bild passt: Hoffnung ist ein hartnäckiges Wesen.
Sie keimt dort, wo niemand damit rechnet – zwischen Schienen, in Rissen, in einer vergessenen Münze oder einer Blume, die man erst auf den zweiten oder dritten Blick sieht.
Sie fragt nicht nach Erlaubnis. Sie fragt nach Entscheidung. Nicht nach Schuld. Nach Verantwortung.
Diese Welt ist möglich. Genau wie die andere.
Morgen: „Zukunft II: Die Möglichkeit“ – der Pfad, der sich öffnet, wenn wir uns jetzt anders entscheiden. (Link folgt.)
Hinweis:
Dieser Text ist eine fiktive, literarische Vision. Er erhebt keinen Anspruch auf Tatsachengenauigkeit; Parallelen zu realen Ereignissen oder Personen sind zufällig.
